Aus dem Bundesgericht:

Das Tram haftet nicht, wenn ein Fussgänger - abgelenkt durch sein Mobiltelefon - unvermittelt das Gleis betritt und schwer verletzt wird. Unterbrechung des Kausalzusammenhangs durch grobes Selbstverschulden.

Am 20. Februar 2019 verletzte sich ein Mann bei einer Kollision mit einem Tram schwer. Er stand an der Haltestelle mit dem Rücken zum Gleis. Den Blick hatte er auf sein Mobiltelefon gerichtet. Dadurch abgelenkt, betrat er unvermittelt das Gleis, ohne zuvor nach links zu schauen und zu prüfen, ob ein Tram kommt. Das einfahrende Tram konnte nicht mehr bremsen und erfasste ihn. Der Unfall ereignete sich bei schönem Wetter und trockener Strasse auf einer geraden Strecke mit übersichtlichen Verhältnissen. Der Mann verlangte eine Genugtuung von CHF 30'000 nebst Zins.

Das Bundesgericht führt in seinem Entscheid zunächst aus, nach Art. 40b Abs. 1 EBG (Eisenbahngesetz) hafte der Inhaber eines Eisenbahnunternehmens für den Schaden, wenn die charakteristischen Risiken, die mit dem Betrieb der Eisenbahn verbunden sind, dazu führen, dass ein Mensch getötet oder verletzt wird oder ein Sachschaden entsteht. Nach Art. 40c EBG wird er allerdings von der Haftpflicht entlastet, wenn ein Sachverhalt, der ihm nicht zugerechnet werden kann, so sehr zur Entstehung des Schadens beigetragen hat, dass er als dessen Hauptursache anzusehen ist (insb. grobes Verschulden der geschädigten oder einer dritten Person, Abs. 2 lit. b; E. 3.1).

Vor Bundesgericht war unbestritten, dass sich beim Unfall die charakteristischen Risiken, welche mit dem Trambetrieb verbunden sind, verwirklicht hatten. Zu beantworten war die Frage, ob den Geschädigten ein grobes Selbstverschulden i.S.v. Art. 40c EBG trifft, das den Kausalzusammenhang unterbricht (E. 4.2.2).

Das Bundesgericht bejahte ein grobes Selbstverschulden des Verletzten mit folgender Begründung:

Wer das Tramtrassee betrete, ohne sich zu vergewissern, dass kein Tram nahe, verstosse gegen die Verkehrsregeln. Grobe Fahrlässigkeit bei Fehlverhalten im Strassenverkehr sei in der Regel dann anzunehmen, wenn eine elementare Verkehrsvorschrift oder mehrere wichtige Verkehrsregeln schwerwiegend verletzt würden. Dabei sei der Begriff der groben Fahrlässigkeit weiter zu fassen als derjenige der groben Verletzung von Verkehrsregeln nach Art. 90 Abs. 2 SVG (E. 4.3.3).

Dass der über sein Mobiltelefon gebeugte Fussgänger zum gewohnten städtischen Strassenbild gehöre, möge zwar zutreffen. Das ändere aber nichts daran, dass der Verletze die Gefahr völlig unnötig geschaffen habe, indem er den Blick auf das Mobiltelefon gerichtet und, ohne aufzuschauen, den Gleisbereich betreten habe. Ausserdem sei der Verletzte ortskundig gewesen und habe die Gefahrensituation gekannt. Es könne deshalb nicht gesagt werden, dass jedem anderen verständigen Menschen in der gleichen Lage dasselbe hätte passieren können, weshalb der Entlastungsbeweis gelinge (E. 4.3.5 - 4.4).

(Urteil 4A_179/2021 des Bundesgerichts vom 20. Mai 2022, besprochen von Michael Hochstrasser in der Zeitschrift AJP 2022, S. 1143-1146)

 

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